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Einblick ins Studentendasein mit Ritalin

(Ausschnitt)

Ich bin ein Zombie, und ich lerne wie eine Maschine

Ritalin macht leistungsfähig. Experten sagen, das Medikament sei eine Gefahr für die Gesundheit und unser Bildungssystem. Ein Selbstversuch

  • Datum 2.4.2009 - 15:38 Uhr

Das erste Mal in meinem Leben nahm ich Ritalin mit 17. Ich war Austauschschüler in Washington, D. C., und Adam, mein Gastbruder, hatte die Pillen besorgt. Wir zerstampften sie mit einem
Gewürzmörser aus der Küche und zogen das Pulver mit einer
Zehndollarnote durch die Nase, das Bild von Alexander Hamilton hatte
danach ein kleines Hitler-Bärtchen aus Staub.

Adam sprang auf, schrie: Look! It’s Adolf Hamilton und fiel über den Mülleimer auf den Boden. Es war die Nacht, in der wir später mit Fahrrädern durch Washington fuhren und Güterzüge mit
Graffiti besprühten. Wir flohen schließlich vor der Polizei, dann lag
ich im Bett mit weit aufgerissenen Augen, unfähig, einzuschlafen. Mein
Herz schlug hart und schnell, meine Augen sprangen sinnlos von einer
Ecke zur anderen, ich schwitzte; es war ein Scheißgefühl. Ich wollte
nie wieder synthetische Drogen nehmen. Auch nicht Ritalin.


Das zweite Mal in meinem Leben nahm ich Ritalin vor ein paar Wochen, nachdem ich einen Artikel in der Zeitung gelesen hatte. Dort stand, Ritalin sei die neue Modedroge unter Studenten – viele nähmen es, weil
sie sich damit besser konzentrieren könnten. In Amerika sei jeder
vierte Student und sogar jeder fünfte Professor auf der Pille, für
Deutschland seien noch keine Zahlen bekannt. Der Artikel klang wie ein
Enthüllungsbericht von der Tour de France.


Konzentrationsprobleme. Kenne ich. Ich studiere Philosophie, und wenn ich in der Bibliothek sitze und Fachliteratur lese, überkommt mich manchmal diese Müdigkeit. Ich sitze vor den Büchern, aber die Wörter
ergeben keinen Sinn als würde ich sie vorlesen, mir selbst aber nicht
zuhören. Mein Kopf knüpft derweil Assoziationsketten, die ich nicht
stoppen kann: Ich schaue aus dem Fenster, sehe einen Gärtner, der einen
Baum schneidet, und ich frage mich, ob seine Säge nicht zu klein ist,
was mich daran erinnert, dass ich die Zimmerpflanze schneiden wollte,
die zu Hause auf dem Tisch steht, auf dem der Brief liegt, auf den ich
einen Kaffeefleck gemacht habe, den ich ja noch zur Post… – apropos
Kaffee: Ob ich mal eine Pause machen sollte? – Nein, stopp. Ich muss
lernen!

Diese Konfusion hat mein Studium zu einem Kampf gegen mich selbst gemacht. Gewinnen kann ich ihn nicht. Manchmal liege ich eine halbe Stunde mit dem Kopf auf meinen Büchern, starre geradeaus und bewege
mich nicht.


Natürlich ließe sich das Versagen psychologisch begründen: Ich spüre den Druck, im Studium zu brillieren, um auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu haben – und es ist dieser Druck, der mich blockiert. Um zu
brillieren, müsste ich den Druck loswerden. Ich brauche Stille in
meinem Kopf. Ich muss dieses Hintergrundrauschen aus meinem Hirn
drängen, wenigstens bis zu meinen Abschlussprüfungen in drei Wochen.


Wenn Ritalin mir dabei helfen kann, dann will ich es sofort haben. Nur für einen Selbstversuch. Natürlich. Ich besorge mir eine Packung über einen Freund, dessen Vater Arzt ist – eine orangefarbene
Pappschachtel, mit eingestanzter Blindenschrift und den großen
Buchstaben: RITALIN, 10 mg. Der Beipackzettel hat etwa die Größe einer
DIN-A4-Seite. Das Wort »Tod« kommt häufiger vor: »Der Missbrauch von
Stimulanzien des Zentralnervensystems kann zu plötzlichem Tod und
anderen ernsten Nebenwirkungen am Herz-Kreislauf-System führen.« Sollte
ich vielleicht doch mit einem Arzt oder Apotheker sprechen? Ich rufe
Gerald Hüther an, Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen
Uni-Klinik Göttingen.

– Wie hoch sind die körperlichen Risiken tatsächlich, Herr Hüther?

– »Sie betrachten das Problem falsch, nämlich rein medizinisch. Ich frage Sie: Was kann man sich selbst Schlimmeres antun, als sich so zu funktionalisieren? Als sich zum Sklaven dieses Bildungssystems zu
machen?«

– Ja, schon, aber was sagen Sie jemandem, der antwortet: Lieber ein Sklave mit 1,0 als ein freier Mensch, der durch die Prüfung fällt?

– »Ich sage ihm: Wenn man anfängt, seine Affekte mit einer Pille zu kontrollieren, ist man kein Mensch mehr. Dann ist man ein Roboter.«

Hüther erklärt mir, dass Ritalin eigentlich nichts anderes ist als Kokain, nur in geringerer Dosis. Deshalb fällt Ritalin in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz; nur wer ein ärztliches Rezept hat,
kann es straffrei in der Apotheke kaufen. Die Tablette wirkt als
sogenannter Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmer, sie senkt den Dopaminspiegel
in den Nervenzellen. Dopamin ist ein Botenstoff, der unsere Impulse
verstärkt.

Wer zu viel davon hat, wird zum Opfer seiner eigenen Impulse, ständig abgelenkt von Ideen und Geistesblitzen. Menschen mit niedrigem Dopaminspiegel hingegen funktionieren automatisch, fokussiert auf eine
einzige Tätigkeit. Deshalb gibt man hyperaktiven Kindern Ritalin, damit
sie in der Schule still sitzen und sich auf den Unterricht
konzentrieren. Eltern mögen das Medikament: Zwischen 1993 und 2003 ist
die Zahl der Ritalin-Verschreibungen weltweit um rund 270 Prozent
gestiegen.

– Aber was sind denn nun wirklich die Nebenwirkungen, Herr Hüther?

– »Sie haben auf nichts mehr Lust, Ihre ganze Emotionalität und Affektivität ist zugedröhnt. Sie empfinden keine Neugier, kein Bedürfnis nach menschlichen Bindungen und sind weniger kreativ. Deshalb
nehmen eher BWL- und Medizinstudenten Ritalin, weil dort weniger
Kreativität verlangt wird.«

– Meinen Sie, man sollte davor warnen? – »Unbedingt! Wer früh Ritalin nimmt, lernt nicht, seine Affekte zu kontrollieren, denn er hat keine mehr. Ohne Pille ist er praktisch lebensunfähig.«

Ein letzter Satz von Hüther geht mir noch Tage später im Kopf herum: »Ritalin ist die Droge für die Pflichterfüller-Generation.« Es ist etwas Wahres daran: In den Siebzigern nahm man LSD, um dem Muff der
Nachkriegszeit zu entkommen. In den Achtzigern nahm man Kokain, um sich
trotz Pershing-II-Raketen gut zu fühlen. In den Neunzigern nahm man
freitags Ecstasy-Pillen, um bis montags zu tanzen. Es waren Spaßdrogen,
mit denen die Jugend gegen die Erwartungen der Gesellschaft
rebellierte. Heute nehmen Studenten Ritalin, weil es ihnen hilft, sich
den Erwartungen der Gesellschaft anzupassen. Sie sind die erste
Generation, die eine Vernunftdroge konsumiert. Eine traurige Droge, ein
Armutszeugnis. Einerseits.

Andererseits: Wenn es für gesunde Körper nicht gefährlich ist – was spricht dagegen? Ich stehe kurz vor meinen Abschlussprüfungen, das hier ist, mit Verlaub, mein Ernstfall. Was interessiert mich die
Befindlichkeit meiner Generation? Ich will nicht rebellieren, ich will
einen Arbeitsplatz in Zeiten einer weltweiten Rezession. Wenn Roboter
bessere Noten kriegen, dann bitte sehr, dann will ich Roboter sein!

Ich nehme also eine Pille, erst einmal zu Hause. Keine Viertelstunde, und meine Umgebung wird leicht heruntergefahren; ein Gefühl wie der Dämmerzustand frühmorgens, wie die konzentrierte Ruhe
nach einem langen Kinobesuch. Die Dinge entwickeln eine seltsame
Singularität: Ich sitze auf meinem Sofa und lese. Nach einer Weile
merke ich, dass der Fernseher auf voller Lautstärke läuft – ich hatte
ihn gar nicht gehört. Ich vergesse nicht, was um mich herum geschieht,
es interessiert mich nur nicht mehr. Ich sehe die Dinge einzeln, eines
nach dem anderen. Andere Drogen bewirken einen Rausch, Ritalin macht
sehr nüchtern.

Der nächste Tag in der Bibliothek ist ein großer Erfolg. Ritalin ist kein Wundermittel, es stärkt nicht meine Arbeitsmoral, aber zumindest lenkt mich nichts mehr ab. Ich schaue nicht aus dem Fenster. Läuft jemand in der Bibliothek an meinem Tisch vorbei, dann blicke ich nicht
auf, sondern starre eisern auf die Buchseiten. Ich arbeite konzentriert drei, vier Stunden lang. Ich vergesse den Druck, den Gärtner, den Kaffee.


Mittags dann stehe ich in der Mensa und überlege, auf welches Menü ich Lust habe – und ich weiß es nicht. Ich wähle zufällig eines aus und stochere lustlos darin herum, das Ritalin hemmt meinen Appetit. Dann nehme ich wieder eine Pille und gehe zurück in die Bibliothek. Ja, ich
bin ein Zombie, aber ein Zombie, der lernt wie eine Maschine.

Es gefällt mir. Nur meine Freunde beobachten mich jeden Tag misstrauischer. Manche von ihnen sind konservativ, sie besuchen Vorlesungen in Hemd und Jackett und betrachten Drogensüchtige in der Fußgängerzone wie Anomalien im Raum-Zeit-Gefüge. Sie sagen, ich sei so
anders in letzter Zeit: lebhafter, aggressiver und etwas anstrengend. Das stimmt. Ich trete Geldautomaten, die mir zu langsam sind, und fluche über vergessliche Kellner im Café.

Schließlich beichte ich meinen Freunden die Sache mit dem Ritalin und erwarte Vorwürfe. Stattdessen fragen sie, ob ich ihnen etwas abgebe. Nein, sage ich, ich will nicht, dass ihr Pillen nehmt! Sie
sagen: Du machst es auch! ...


(Willst Du wissen, wie das Experiment endet?... weiterlesen:)


Kommentare (Ausschnitt)
  1. also der Artikel macht wirklich neugierig, vor allem wenn man die Situationen kennt. Aber eigentlich sollte man eher abschrecken.
    Das der Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszk sagt es wäre ok sich einen
    Vorteil zu verschaffen verstehe ich nicht. Dieser man sieht nicht die
    langfristigen Schäden für Konsument und seine Umwelt.
    In Asien wurde oder wird noch Methamphetamin von Chefs an ihre Arbeiter
    abgegeben das sie mehr arbeiten können. Das Land konnte irgendwann
    dieses Geschwür nicht mehr kontrollieren und fing an. Süchtige und
    Dealer einfach zu erschiesen, es wurde zu einer richtigen Treibjagd.
    Natürlich kann man das nicht ganz vergleichen aber man darf es auch
    nicht wie Sven Gábor Jánszk verharmlosen. Es gibt viel zu viele labile
    Wesen da drausen, bei denen dieses zeug zur Katastrophe wird...

  2. Der Artikel erinnert mich daran, daß ich immer noch nicht Sartres Mescalin-Bericht gelesen habe... Selbstversuche um darüber zu berichten lesen sich wirklich interessant. Empfehlen kann ich auch
    Berichte über homöopathische Mittel, die sind wesentlich subtiler und
    betreffen ganz bestimmte Themata des lebensweltlichen Spektrums und
    beeinflussen erst indirekt die Biochemie.
    Die Lernhemmung ist natürlich bekannt. Wenn man zweimal die Woche Boxen
    geht und sich durchwalken lässt dann stellt sich aber Ruhe schon ein.
    Anderseits weiß ich daß man hyperaktive Leute durch richtige Betreuung
    zu ihrem eigenen Lernstil, also staccato, bringen kann - sie sind dann
    extrem leistungsfähig aber gar nicht empathisch.
    Schliesslich gibt es am Tag zwei Phasen wo es von der Lufelektrizität
    her gut zu arbeiten ist: "Im Zusammenhang mit Untersuchungen der
    Sonnenaktivität wurde festgestellt, dass die Häufigkeit der Sterberate
    zwischen 14-10 Uhr liegt. Wenn die Ladungsdichte der atmosphärischen
    Luft ihr Maximum hat und zwischen 19 und 20 Uhr, wenn das Minimum
    erreicht wird. Die Arbeitsfähigkeit des Menschen ist phasenverschoben.
    Sie erreicht ihr Maximum zwischen 10 – 12 Uhr, das Minimum gegen 14 Uhr
    und ein weiteres Maximum gegen 16 – 18 Uhr. Biosysteme des Menschen
    beginnen ihre Arbeitsfähigkeit bei einem Schwellwert der ladungsdichte
    und werden zerstört, wenn der Wert der Ladungsdichte in der
    doppelschichtigen Membran den Durchschnittswert erreicht. Die
    Ladungsdichte erreicht in der Atmosphäre im Mittel 3 x 10- (hoch 11)
    C/m3. Bedeutende Abweichungen davon führen zur Zerstörung der
    Impulsübertragung in den transmembranen Ketten."
    (Karl Hecht, Literaturstudie für das Bundespostministerium 1994)
    -kann natürlich sein daß im Bereich technischer Funkquellen gar keine natürliche Atmosphäre mehr herrscht, aber keine Ahnung.
    Trotzdem: Statt sich mit Medikamenten zu behelfen sollte der Autor lieber mal die seine Lebensumstände überprüfen, Hinweise s.o.

    Reaktionen auf diesen Kommentar anzeigen

    Etwa wie folgt?

    Tag 1: Nichts passiert.
    Tag 2: Nichts passiert.
    Tag 3: Nichts passiert.
    Tag 4: Nichts passiert.
    Tag 5: Nichts passiert.
    Tag 6: Hatte das vage Gefühl, heute könnte es ein wenig gewirkt haben.
    Tag 7: Ja...
    Tag 8: Doch nicht.
    Tag 9: Nichts passiert.
    Tag 10: Nichts passiert.
    Tag 11: Nichts passiert.
    (...)

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